Staunen lehrt beten

Es zeigte sich ein kleiner Riss in der staubtrockenen Gartenerde. Neugierig ging ich Tag für Tag, um zu sehen, was sich hier entfalten würde. Zartes Grün schob sich ans Licht. Und jeden Tag geschah das kleine, große Wunder – ohne Lärm. Es entfaltete sich eine kleine Tulpe. Heute ist ein wunderschöner Frühlingstag und sie verrät mir schon ihre Farbe. Bald werde ich ihre ganze Schönheit sehen. Am Abend wird sie ihren Blütenkelch schließen, um sich am Morgen von neuem der Sonne zu öffnen.

Tausende von Tulpen blühen, das ist nichts Besonderes, so kann man es auch sehen. Doch für mich ist jede Blumenzwiebel ein großes Wunder, weil ich keine Tulpenzwiebel schaffen kann. Staunend bleibe ich vor meiner Tulpe stehen und freue mich, dass es sie gibt.

In den kleinsten Dingen geschehen die größten Wunder; wir sollten sie sehen und beobachten. Sie lehren uns, bescheiden zu sein. Im Frühling feiert die ganze Natur ein Fest der Lebensfreude. Schlummernde Energie wird sichtbar, verborgene Kraft lässt wachsen und entstehen in der gesamten Natur.

Die Tulpe wird blühen und ihre farbenfrohe Schönheit verschenken an alle, die sich an ihr freuen können. Sie wird von Insekten besucht werden und dem Wetter ausgeliefert sein. Sie wird verblühen und nächstes Jahr wieder da sein, wenn wir sie nicht zerstören, oder ihrer Zwiebel etwas zustößt. Und wenn ich ein Lebensjahr geschenkt bekomme, werde ich auf die kleine Tulpe warten. Denn sie und ich haben das Leben nicht in der Hand.

Franz von Assisi bringt es im Sonnengesang, seinem Lob auf die Schöpfung zum Ausdruck:

„Gelobt seist Du, Herr, durch unsere Schwester, die Mutter Erde,

die gütig und stark uns trägt und mancherlei Frucht uns bietet

mit farbigen Blumen und Matten.“

Franziskus sah die wahre Wirklichkeit der Schöpfung.

Die größten Wunder sind in den kleinsten Dingen verborgen.

Sr. Irmgard
KMBA